Integration und Inklusion
Bild: c KIN Gudrun Uhlig schwenkt das Smartphone in verschiedene Richtungen und erkundet mit einer mobilen App den ihr fremden Raum, um sich darin orientieren zu können.
Gudrun Uhlig leitete viele Jahre die ProRetina Landesgruppe Thüringen. Sie ist selbst blind und hat so einen tiefen Einblick in das Spannungsfeld zwischen Integration und Inklusion.
In Vorbereitung der Fachtagung des Dachverbandes der ev. Blinden- und Sehbehindertenseelsorge gab es ein Gespräch mit ihr zu diesen Fragen:
Transkipt
Sorge: Am Telefon begrüße ich Gudrun Uhlig aus Jena, hallo!
Uhlig: Guten Morgen!
Sorge: Der Dachverband der Evangelischen Blinden-und Sehbehinderten-Seelsorge stellt auf seiner Fachtagung die Frage nach der Zukunft der Blindenseelsorge und verknüpft diese mit der Inklusion von
blinden und sehbehinderten Menschen. Darüber wollen wir gleich sprechen.
Menschen mit Netzhauterkrankungen sind Gudrun Uhlig ein Begriff, nicht nur in Thüringen.
Können Sie kurz erklären, warum?
Uhlig: Sie gehören zu den seltenen Erkrankungen.
Die Netzhaut erfüllt ihre Funktion nicht mehr und schwindet immer mehr. Das heißt, es ist im Grunde genommen meistens eine schleichende Erblindung und wann die völlige Erblindung eintritt, ist ganz verschieden. Und wenn ich da von mir erzählen darf, ich bin mit dieser Erkrankung schon auf die Welt gekommen. Es war bei mir eine schleichende Erblindung, und seit 25 Jahren ist mein Rest gleich null.
Sorge: Und Sie haben sich dann in diesem Bereich engagiert?
Was haben Sie da gemacht?
Uhlig: Ich habe nach Selbsthilfevereinigungen gesucht und im Anschluss an den Blinden- und Sehbehinderten-Verband die Pro-Retina ev. Deutschland gefunden, die Spezialgruppe für Netzhauterkrankungen. Dort habe ich in der Regionalgruppe Thüringen ein paar Jahre aktiv mitgewirkt, später über einige Jahre mit meinem Lebensgefährten ein Hörmagazin erstellt.
Sorge: Sie haben also einen tiefen Einblick in die Situation von blinden und sehbehinderten Menschen. Deshalb interessiert uns: Wie beurteilen Sie die Bedeutung des Themas Inklusion in Gesellschaft und Politik?
Uhlig: Als sehr wichtig.
Für mich gehört aber beides zusammen, Integration und Inklusion, weil ich glaube, dass Inklusion ohne Integration nicht möglich ist.
Sorge: Wie würden Sie die Unterschiede beschreiben?
Uhlig: Bei der Integration bin ich als betroffener Mensch gefordert, mich an die Bedingungen anzupassen. Das heißt, ich sollte mit dem Langstock gehen, ich sollte die technischen Möglichkeiten ausnutzen, die es gibt, über Krankenkassen, über Selbsthilfevereinigung und nicht voraussetzen, dass alles so vorbereitet wird, wie es für mich im Moment erforderlich ist.
Also nicht nur von meinem Befinden auszugehen, sondern auch die Anforderungen Anderer mit im Blick zu haben. Bezüglich der Inklusion, so habe ich es empfunden, organisiert die Gesellschaft schon die Voraussetzungen dafür, dass sich der Mensch mit Behinderung dort gut einklinken kann, ohne dass er selbst viel bei sich verändert. Hinsichtlich der Integration bin ich als Behinderte selbst gefragt, bei der Inklusion die Gesellschaft.
Sorge: In der Weise waren Sie sehr vorbildlich, indem Sie sich sehr umfangreich engagiert haben, zum Beispiel bei Pro-Retina, aber wahrscheinlich auch jeden Tag, wenn Sie vor die Haustür treten, und nicht nur dann.
Welche Bedeutung hat für Sie denn die Kirche bei der Umsetzung der Inklusion und welchen Verbesserungsbedarf sehen Sie da?
Uhlig: Ich gehe mal von meiner Gemeinde aus, ich bin die Einzigste, die völlig erblindet ist. Ich weiß nichts von anderen, die vielleicht eine erhöhte Seheinschränkung haben. Deswegen denke ich immer, man muss es kommunizieren. Es kann ja sein, dass Menschen nicht mehr zur Gemeinde kommen, weil sie Schwierigkeiten mit dem Sehen haben. Bei mir in der Gemeinde sind sie aber sehr umsichtig. Ich denke, das wird eher abgefangen.
Aber ohne eigenes Zutun wird es nichts. Für Menschen mit einer Hörbehinderung ist es sehr angenehm, dass der Gottesdienst immer über Mikrofon gehalten wird, sowohl vom Altar als auch vom Predigerpult. Insofern sehe ich, soweit ich dies beobachte, in dem Bereich für mich keine Notwendigkeit für besondere Maßnahmen.
Sorge: Und wie würden Sie ideale Inklusion ganz allgemein beschreiben?
Haben Sie eine Vision in der Hinsicht?
Uhlig: Ich würde so formulieren: Die volle Inklusion wird es nie geben, aber wir können gemeinsam daran arbeiten. Zum Beispiel, dass wir ältere Menschen nicht zunehmend aus der Gesellschaft ausgrenzen, weil zum Beispiel bei Bankgeschäften Bedingungen gestellt werden, bei welchen ältere Menschen nicht mehr mitkommen. Speziell werden Kontoauszüge nicht mehr am Automat in der Zweigstelle ausgedruckt. Es heißt dann „Online Banking“. Und genauso wie mit dem Hinweis auf das Smartphone und die weitere Technik, stehen viele ältere Menschen davor und werden nicht mehr mitgenommen. Das sind ganz konkrete Beispiele, die große Barrieren für diese Personengruppe darstellen.
Sorge: Welche Ideen hätten Sie für die christliche oder kirchliche Blindenseelsorge?
Uhlig: Ich würde mir wünschen, dass nach wie vor Briefe der Deutschen Evangelischen Blindenseelsorge zugänglich gemacht werden, mit Buchhinweisen, nach Themen geordnet, so wie ich das jetzt schon kenne, auch dass vielleicht weiterhin Seminare und Rüstzeiten möglich werden, an denen dann auch Menschen mit Handicap, sprich bei mir mit Blindheit, teilnehmen können. Aber das sind alles Maßnahmen, die existieren schon, wie ich meine oder kenne. Schön wäre es, dies würde erhalten bleiben.
Sorge: Das war Frau Gudrun Uhlig aus Jena, die sich ganz stark im Bereich Pro-Retina und für Menschen mit Netzhauterkrankungen engagiert, selbst Betroffene ist und kurz zusammengefasst sagt, es ist Eigeninitiative gefragt, um auch Menschen, zum Beispiel christliche Kirchen und Gemeinden, die Informationen zu geben, damit Inklusion gefördert werden kann.
Habe ich das richtig zusammengefasst?
Uhlig: Ja, genau.
Sorge: Dann bedanke ich mich ganz herzlich für das Gespräch und wünsche Ihnen weiter alles Gute.
Uhlig: Wünsche ich Ihnen auch. Auf Wiederhören.
Veröffentlicht am 04.06.2025 von Sorge, Jörg